Der Mythos des Narziss, der oft auf ein utilitaristisches Klischee reduziert wird, um Egoismus und Eitelkeit zu bezeichnen, ist weitgehend von seinem ursprünglichen Wesen entstellt worden. Was wäre, wenn wir Narziss missverstanden haben? Was, wenn seine Besessenheit von seinem Spiegelbild weniger ein Beweis für Oberflächlichkeit war als ein Akt des existenziellen Überlebens?
In der uns überlieferten Erzählung verliebt sich Narziss in sein Abbild, bis er schließlich verdorrt und stirbt. Dieses Verhalten ist als Illustration einer übermäßigen Selbstliebe, als Warnung vor Individualismus und Exzess interpretiert worden. Diese Lesart ist zwar weit verbreitet, geht aber an einer tieferen Wahrheit vorbei: Narziss ist nicht egoistisch, er ist verloren. Die Besessenheit des Narziss von seinem Spiegelbild ist kein Akt der Eitelkeit. Er bewundert sich nicht für das, was er ist, sondern für das, was er zu verstehen sucht. Sein anhaltender Blick ins Wasser spiegelt eine existenzielle Suche wider: Wer bin ich?
In dieser Reflexion sieht er nicht nur ein Bild, sondern eine Frage, die ihn verfolgt. Dieser eingefrorene Moment vor dem Wasser wird zu einem Versuch der Erkundung, zu einem Abstieg in sich selbst. Narziss ist nicht in seinem Bild gefangen, sondern in seinem Bedürfnis, seine Identität in einer fragmentierten und schwer fassbaren Welt zu klären.
Für Roland Barthes ist die Liebe in Der Diskurs des Liebhabers (1977) ein Raum des Leidens, des Wartens und der Widersprüche. Das liebende Subjekt verzehrt sich in seiner Besessenheit, so wie Narziss sich in der Anbetung seines Spiegelbildes verliert. Barthes beschreibt die Erfahrung der Liebe als eine unaufhörliche Suche nach Sinn, als einen inneren Dialog, der durch das Begehren angeheizt wird, aber oft durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet ist, die daraus entstehenden Widersprüche zu lösen. In ähnlicher Weise ist Narziss in einer introspektiven Schleife gefangen: Sein Spiegelbild fungiert als stummer Partner bei dieser Suche, als Projektionsfläche für seine Fragen.
Dieser neu interpretierte Mythos offenbart ein tiefes Echo unseres menschlichen Daseins. Wie Narziss versucht jeder Einzelne, sich in einem Spiegel zu definieren, sei es in einem physischen, sozialen oder digitalen.
Soziale Netzwerke beispielsweise sind ein zeitgenössischer Widerhall von Narziss‘ Pool: ein Ort, an dem man sein oft fragmentiertes Spiegelbild unter die Lupe nimmt.
So wird Narziss zu einem Symbol für unsere innere Zerrissenheit. Seine Faszination für sein Abbild, die fälschlicherweise als Arroganz interpretiert wird, spiegelt in Wirklichkeit seinen Durst nach Einheit und Verständnis wider. Er ist der Archetyp des Menschen, der versucht, die verstreuten Fragmente seiner Identität in einem Spiegel zusammenzusetzen, der die Wahrheit nie vollständig widerspiegelt.
Was wäre, wenn wir Narziss nicht als Egozentriker, sondern als Entdecker betrachten würden? Sein Versagen läge dann nicht in seiner vermeintlichen Selbstliebe, sondern in der Unfähigkeit des Spiegelbilds, seine Fragen zu beantworten. Der Wasserspiegel bietet nur eine Oberfläche, eine Erscheinung. Was Narziss sucht, ist Tiefe, Essenz, das wahre Echo seines Wesens.
Aus dieser Perspektive ist Narziss nicht nur eine tragische Figur. Er erinnert uns auch daran, dass die Selbsterkenntnis ein notwendiges und zugleich riskantes Projekt ist. Beim Eintauchen in den Spiegel geht es nicht darum, sich im Schein zu verlieren, sondern darum, darüber hinaus zu gehen.
Team
Interpreten: Bishop Black, Max Mayer, Sunny + (im Voraus aufgezeichnete Gäste auf dem Bildschirm: Elisabeth Bakambamba Tambwe, Nadia
Beugré, It will be a fake life!!)
Videodreh: Eduardo Trivino Cely
Beleuchtung: Svetlana Schwin
Musikton: t.b.a
Produktion: Indra Jaeger
BIOS
Bishop Black (performance/video/they/them)
Bishop Black (they/them) ist ein schwarzer britischer Pornodarsteller*, Sexworker*, Theaterdarsteller*, Regisseur* und Allround-Charmeur*. Bishop Black leben derzeit in Berlin. Sier sind seit über 10 Jahren in der Erotikbranche tätig und haben mit einigen der provokantesten Persönlichkeiten der Branche zusammengearbeitet, darunter die Biennale von Venedig Künstlerin Shu Lea Cheang sowie die Regisseur*innen Bruce LaBruce und Erika Lust. In ihren Bühnen- und Filmvorführungen setzt sich Bishop regelmäßig mit Themen wie sexueller Fluidität und Ethnie auseinander und bedient sich dabei der Mythologie, des Okkultismus, der Queerness und des Tanzes. Soeben haben sie ihr Regiedebüt im Ballhaus Naunynstraße in Berlin beendet.
https://www.instagram.com/thebishopblack3000/reels/
Sunny (performance/she/her)
Sunny erschafft Kunst, die ein Gefühl der Selbstentwicklung und -bewertung in einem selbst hervorruft. Sie teilt die Entwicklung ihrer Arbeit durch das Erforschen und Spielen mit verschiedenen Medien. Sunny begann ihre Reise mit der Haarskulptur, indem sie eine Geschichte durch Haare kreierte. Sunny hat sich auf ihrer Reise als Pole-Tänzerin und Food-Fantasy-Performerin weiterentwickelt und schafft durch Bewegung und Emotionen neue Geschichten.
https://www.instagram.com/sunny_jana?igsh=MWVlM2lhNm9kYm0yZw%3D%3D&utm_source=qr
Elisabeth Bakambamba Tambwe (host/artistic direction/she/her)
Als Künstlerin, Choreografin und Regisseurin arbeitet Elisabeth B. Tambwe mit verschiedenen Formen und Genres: Performance, Choreografie, Film, interaktiv und generativ, sowie mit verschiedenen Dramaturgien und Räumen wie Installationen und Bühnen. Sie interessiert sich für das Auftauchen neuer Formen von Andersartigkeit und die einzigartigen Beziehungen und Sprachen, die sie hervorbringen. Was verraten sie über unser Menschsein, und wie fordern sie den Begriff des Anthropozentrismus heraus? Ihre Projekte sind transdisziplinär und kollektiv und versuchen, gemeinsame Forschungsräume zwischen Performance-Kunst und Sozialwissenschaften zu schaffen.
Indra Jäger (production)
Indra Jäger, geboren in Frankfurt am Main, lebt seit 2000 in Wien. Nach dem Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaften hat sie den Kunst- und Kulturverein IM ERSTEN mitinitiiert und geleitet (2012-16). In diesem Bereich arbeitet sie weiterhin als Produzentin für Dig Up Productions und ist verantwortlich für das diskursive Performanceformat „Salon Souterrain“ sowie „Speech of Love: Absence“ und ‚Beyond The Overflow‘. Seit 2023 ist Indra als Redakteurin und Chefin vom Dienst bei der österreichischen Lösungsjournalismus-Plattform relevant.news tätig, sowie als als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationswissenschaft (CMC) zu arbeiten.